Archiv für das Schlagwort ‘Tom Bullmann’
Der Gesang seines Gegners wandelte sich in einen Schrei. Im gleichen Moment stieß der Krieger zu. Die Speerspitze wurde zu einem blauen Blitz, dem Tom erst im letzten Moment ausweichen konnte. Allerdings streifte die Waffe seinen Oberarm, zerfetzte den Stoff und hinterließ einen Schnitt, der sich sofort mit Blut füllte.
Nun verließ Tom auch der letzte Rest an Hoffnung. Sicher, er war seinem Gegner körperlich um ein Vielfaches überlegen. Das glich dieser aber problemlos durch Schnelligkeit und Geschick aus. Verzweifelt versuchte Tom, hinter den Jungen zu gelangen, womit er aber kläglich scheiterte. Auch wurde ihm bewusst, dass er auf diese Weise zwischen seine Feinde geriet, und er machte seinen Schritt schnell wieder rückgängig.
Erneut kam die Speerspitze auf ihn zugeschossen, während er noch dabei war, sich wieder in eine halbwegs gute Verteidigungsposition zu bringen. Aus einem Reflex heraus schlug er nach dem funkelnden Stein und bekam ihn seitlich zu fassen. Die Schneide ratschte ihm über die Handfläche. Der Schmerz war unerträglich. Dennoch packte er zu, als er das Holz des Speerschafts spürte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er brüllte. Wie am Spieß!, dachte er und wusste nicht, ob er noch schrie oder schon lachte.
Sein schmächtiges Gegenüber jedenfalls hatte er mit dem Schlag ins Wanken gebracht. Mit aller Kraft zog Tom an dem Speer, und der Junge fiel ihm genau vor die Füße. Sein nächster Schlag traf den Gegner an der Schläfe. Für mehr hatte er keine Zeit. Etwas traf mit voller Wucht die verletzte Hand, sodass er die unter Schmerzen eroberte Waffe nicht mehr halten konnte. Sie fiel zu Boden, und sein einziger Gedanke war: Ich muss sie wiederhaben!
So langsam dieses Volk seinen Angriff auch führte, irgendwann musste jeder Abstand auf ein Minimum schrumpfen. Jetzt bereute Tom, dass er sich hier als Held aufspielte. Wieso hielt Mona ihn nicht davon ab? Warum unternahm die kampferfahrene Agentin nichts?
Als er diesen Gedanken gerade zu Ende gedacht hatte und sich zu Mona umdrehen wollte, bekam er es mit dem ersten Angreifer zu tun. Ein junger Krieger, der so plötzlich auf ihn zu schoss, als habe ihn ein Insekt in den Hintern gestochen. Die Spitze seines Speeres, den er im Laufen wie eine Lanze auf Tom gerichtet hielt, bestand aus einem bläulich funkelnden Stein, dessen gehärtete Kanten tödliche Wunden versprachen. Und der Typ sang!
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Sie griffen an. Ohne Gebrüll. Und ohne Eile. Das Schweigen der Angreifer ließ sie noch schrecklicher erscheinen. Die Ruhe, mit der sie sich näherten, strahlte die Macht absoluter Überlegenheit aus. Zu Recht. Tom und seine zwei Begleiterinnen hätten vermutlich selbst dann keine Chance gegen diese Übermacht gehabt, wären sie bis an die Zähne mit Schusswaffen ausgestattet gewesen. Er schätzte, dass jeder von ihnen es mit mindestens 30 Gegnern zu tun hätte, falls diese überhaupt alle zum Zuge kämen. Wie lächerlich kam er sich vor, jetzt, da er sich vor Mona und Lisa aufbaute, als könne er sie in dieser Weise beschützen.
Unter der Stätte von Lednah hatte sich Tom etwas anderes vorgestellt. Einen Tempel. Wenigstens einen Altar. Götzenbilder waren ihm durch den Kopf geschlichen. Doch jetzt standen sie einfach nur auf einer kreisrunden Lichtung. Nicht einmal die Ahnung irgendeines menschlichen Eingreifens fand sich hier. Das machte die Sache dann doch ein wenig gespenstisch, denn die Lichtung bildete einen so perfekten Kreis, als habe sie jemand mit dem Zirkel gezogen. Seltsamer jedoch war noch, dass nicht erkennbar war, wie die Lichtung entstanden war. Es gab keine Baumstümpfe. Nicht einmal ein Strauch schien sich über die unsichtbare Grenze zu wagen, über die die randständigen Bäume nicht die kleinste Wurzel schickten.
Zwischen den hellen Stämmen zeigten sich jetzt ihre Verfolger. Sie tauchten aus den Schatten auf, als seien sie dort selbst gerade erst dem Boden entwachsen. Und wunderlicherweise war ihre Haut von derselben hellen Farbe wie die Stämme der Bäume. Dass sie sich bis dahin ihren Blicken entzogen hatten, schien ihm beinahe unmöglich, denn sie trugen keine Kleidung, die einer Tarnung hätte dienen können. Eine Art überlanger Lendenschurz setzte sich farblich kaum von den nackten Oberkörpern und Beinen ab. Kein Schmuck zierte die kleinen, aber gedrungenen Körper dieser Menschen, weder die der Männer noch die der Frauen. Frauen! Bei diesem Volk schien das Geschlecht im Kampf keine Rolle zu spielen. Jedenfalls schauten die Kriegerinnen nicht weniger grimmig als die Krieger. Und sie trugen die gleichen schrecklichen Waffen!
Die Stätte von Lednah. Tom wiederholte den Namen, den Mona genannt hatte, in Gedanken ein paar Mal. Ein Ziel, das sie erreichen mussten, wollten sie überleben. Lisa, die erneut vor ihm ging, drehte sich immer wieder um. Sinnlos. Ihre Verfolger verstanden es, sich zu tarnen. Nicht einmal der Schatten eines Schattens war im Urwald links und rechts des Weges zu erhaschen. Dabei hatte Tom den Eindruck, dass die Reldnah es durchaus darauf anlegten, ihre Präsenz spürbar zu machen. So wuchs der Druck, keinen Fehler zu begehen. Er konnte nur hoffen, dass Mona ihre Hausaufgaben wirklich gut gemacht hatte. Sollten sie vom direkten Weg zur Stätte abkommen, würden sie zu Freiwild werden. Dann würden dieselben Waffen, die sie sich von den Reldnah erhofften, um ihr Leben zu verteidigen, ihren Tod bedeuten.
Tom hatte erstaunlich gut geschlafen. Kurz, aber gut. Selbst in den Nächten war es hier recht warm zu dieser Jahreszeit, welche auch immer das sein mochte. Er schaute auf seine Armbanduhr. Richtig. Da war keine mehr. Er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen. Seit sie hier angekommen waren, trug er nur noch seine Kleidung. Keine Uhr, keine Brieftasche, kein Handy. Beinahe ein Wunder, dass sie nicht splitterfasernackt in Redna erwacht waren. Er grinste. Er hätte Lisa gern mal wieder nackt gesehen. Und Mona? Ihr Anblick hätte ihn noch mehr interessiert. Vielleicht auch spärlich mit steinzeitlichen Fellen behängt.
Er warf einen Blick in die Höhle. Die beiden Frauen schliefen so weit voneinander entfernt, wie es der kleine Raum zuließ. Lisa in unruhigen Träumen, Mona, seit er die Wache von ihr übernommen hatte, tief und fest. Er musste sich eingestehen, dass ihm dieses Abenteuer inzwischen weit weniger missfiel als seiner Ex. Das lag keineswegs an seinen beiden Begleiterinnen. Nicht ausschließlich jedenfalls. Jetzt, da sie sich durch die Wildnis Rednas schlugen, erinnerte es ihn an seine Jugend auf dem Land. Mit seinen Freunden hatte er die wildesten Quests in den Wäldern rund um das Dorf bestanden. In ihrer Fantasie war die Landschaft damals ebenso urwüchsig gewesen, wie sich ihm heute Redna präsentierte. Es war als …
Hatte er da gerade ein Geräusch gehört? Angestrengt schaute er in die Büsche, die den schmalen Weg vor der Höhle säumten und im Morgengrauen wie knorrige Gestalten wirkten. Sicher nur ein Tier. Jetzt jedenfalls hörte er nichts mehr. Dennoch fröstelte ihn jetzt.
Lisa trottete Mona hinterher. Sie wäre am liebsten in dieser verdammten Höhle sitzen geblieben, in der sie wieder zu sich gekommen waren. Tom, dessen stampfenden Schritte ihr einen monotonen Rückhalt gaben, hatte eine ganze Weile auf sie eingeredet, dann war ihre ätzende Führerin dazwischen gegangen und hatte rumgezickt. „Soll sie doch bleiben, wo sie ist“, hatte sie gesagt. „Es wird sich schon irgendjemand oder irgendetwas um sie kümmern.“
Sie hasste diese Frau.
Tom dagegen schien es Mona nicht einmal übelzunehmen, dass sie sie in dieses verflixte Land geschleppt hatte. Redan oder wie immer es hieß. Sie drehte sich im Laufen um. Der hatte echt einen Knall. Der lief durch die Landschaft, als wären sie auf einer Urlaubssafari. Gut, anfangs hatte sie auch gestaunt. Das Grün hoher Gräser, das den schmalen Weg säumte, erhielt verschiedenste Farbtupfer durch seltsam geformte Blüten. Ab und an konnte man einen Blick in tiefer gelegene Regionen werfen. Dort erstreckte sich offenbar ein Wald, die Kronen der Bäume von bläulichen Nebeln umflossen. Das sah schon alles toll aus und man kam sich tatsächlich vor, als streife man durch unbewohnte Gegenden Afrikas. Oder vielleicht Südamerikas. Sie war da nicht so bewandert. Aber in ihrer Situation konnte sie dem auf Dauer wenig abgewinnen. Vor allem, weil sie schon seit Stunden durch diese Gegend liefen. Immerhin ging es bergab.
„Kennst du dich hier aus?“ Hoffentlich blieb Mona stehen, um die Frage zu beantworten.
„Nein.“ Sie lief nicht einmal langsamer.
„Wo wollen wir dann eigentlich hin?“
„Wir brauchen Waffen.“
„Waffen? Wozu brauchen wir Waffen?“ Lisas Herz klopfte gleich ein bisschen schneller.
„Weil wir keine haben.“
Tolle Antwort. Mit dieser Person wollte sie nicht einmal in einem gemütlichen Café zusammen am Tisch sitzen. Wie lange würde sie sie wohl noch ertragen müssen? „Du hattest doch eine Pistole.“
„Man kann keine Waffen mit nach Redna bringen.“
Der anhaltende Ärger über diese Person machte es ihr nicht leicht, sich auf den Kern der Sache zu fokussieren. Sie hatte Hunger, die Füße taten ihr weh und nun schien nichts dringlicher, als sich zu bewaffnen? „Sind wir denn hier in solcher Gefahr? Ich dachte, du wolltest uns in Sicherheit bringen. Wozu also die Waffen?“
Mona antwortete nicht. Tom sprang für sie ein: „Wahrscheinlich für den Fall, dass Boss und ihre Männer uns folgen.“
Lisa wartete noch einen Moment. Nicht mal zu einem Nicken oder Kopfschütteln bequemte sich diese Frau. „Hey!“ Sie stieß Mona in den Rücken. „Ist das so?“
Mona blieb nicht stehen. „Boss ist erst einmal unser kleinstes Problem.“
Tom schaute zu Lisa. Das Energiebündel, das er eben noch kaum hatte zurückhalten können, keinen Mord zu begehen, saß jetzt in sich zusammengesunken in einem dunklen Winkel der Höhle. Nie zuvor hatte Tom ein Bild solcher Hoffnungslosigkeit gesehen.
Er schüttelte sich und wandte sich Mona zu. „Nur, um das noch einmal zusammenzufassen: Um wieder in unsere Welt zu kommen, brauchen wir die Kräfte von Tsieg und Nomad.“
Die Kopfbewegung Monas sollte wohl Zustimmung bedeuten.
„Und Nomad ist in Besitz vom Geisterorden, genauer gesagt von Boss.“
Wieder ein leichtes Nicken.
„Wir müssen also darauf hoffen, dass sie uns folgt und hier wieder mit uns zusammentrifft?“ Diesmal wartete er Monas Reaktion nicht ab. „Was haben wir damit gewonnen, außer einen Ort, an dem keiner von uns sein will und der uns zum lebenslangen Gefängnis werden kann?“
„Zeit.“
Lisa stand kurz vor der Explosion. Tom griff nach ihrer Hand. Sie schnaubte, riss sich los und begann, auf und ab zu marschieren.
Er wandte sich an Mona. „Also, wo sind wir?“
„Redna.“
„Nie gehört.“
„Das wundert mich nicht.“
„Geht es vielleicht etwas ausführlicher?“, schrie Lisa dazwischen.
„Redna ist der Name für eine Parallelwelt.“
„Was erzählt die da für eine Scheiße?“
„Ich muss Lisa recht geben, das klingt ziemlich verrückt.“
„Findest du?“, fragte Mona schnippisch. „Und wie du hierhergekommen bist, ist für dich ganz normal?“
„Wie sind wir hierhergekommen?“
„Tsieg hat uns gebracht.“
„So, so!“ Lisa stand mit drei Schritten Mona direkt gegenüber. Tom konnte sie nicht mehr zurückhalten. Überraschenderweise blieb Mona ganz ruhig.
„Du glaubst auch, du kannst mich verarschen!“ Lisa war zur Furie geworden. „Hör zu! Mir ist scheißegal, wie du uns hergebracht hast! Genauso egal ist mir, wo wir hier sind! Aber jetzt sorgst du dafür, dass wir wieder nach Hause kommen!“
„Du solltest froh sein, dass du noch lebst.“
„Leck mich! Ich will nach Hause!“
Mona wandte sich ab, als ginge sie das alles nichts an. „Das geht nicht.“
„Wie bitte?“
„Tsieg allein kann uns nicht zurückbringen.“
„Runter!“, schrie Mona und warf sich hinter den Tisch.
Tom zog Lisa mit sich. Noch im Fallen bemerkte er, wie Mona Tsieg schnappte und in ihrer Jacke verschwinden ließ. „Sie haben Verstärkung bekommen“, flüsterte er ihr zu.
Mona nickte und kontrollierte ihre Waffe.
„Haben wir euch!“ Die Stimme von Boss.
Die Bäckersfrau kreischte. Ein Schuss fiel. Das Kreischen hörte auf. Dumpf schlug der Körper auf den Fußboden. Jetzt schrie Lisa. Tom hielt ihr die Hand vor den Mund.
„Ihr habt keine Chance! Gebt das Artefakt heraus und ihr seid uns los!“
Mona stieß ihn an. Sie hielt den Finger vor den Mund. Dann streckte sie ihre Hand aus. Was sollte das? Das passte gar nicht zu ihr. Er zögerte. Energisch wiederholte sie die Geste. Er gab ihr die Rechte, hielt mit der anderen weiter Lisa umklammert.
„Wirf die Waffe weg! Dann kommt ihr alle mit erhobenen Händen raus! Sonst holen wir euch!“
Tom sah es jetzt erst: Mona hielt Tsieg in der freien Hand. Sie streichelte die Figur mit dem Daumen. Und sie murmelte irgendetwas. Ihr Griff wurde fester, als wolle sie um jeden Preis verhindern, dass Tom sie losließ. Was war mit ihr? Angst konnte es nicht sein. Nicht bei Mona. Auch wirkte sie vollkommen ruhig, beinahe weggetreten. Ihre andere Hand schimmerte. Nein, nicht die Hand – Tsieg! Wie war das möglich? Eine Holzfigur! Sie schimmerte. Flimmerte. Nicht nur Tsieg, alles um ihn herum. Sterne tanzten. Immer schneller, immer wilder, bis einer nach dem anderen erlosch. Dann war es dunkel!